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Nr. 100, September 2017 - Internationales

Die Eskalation zwischen dem deutschen und dem türkischen Staat: Eine gefährliche Falle für die Arbeiter in beiden Ländern

In den letzten Wochen ist der Konflikt zwischen dem deutschen und dem türkischen Staat weiter eskaliert – insbesondere seit den willkürlichen Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten und sogar Urlaubern, die ihre Familie in der Türkei besuchten. Auch der Wahlkampf in Deutschland heizt die Stimmung weiter an. Denn jede Partei will beweisen, dass sie dem türkischen Staat besonders entschlossen entgegentritt.
Beide Seiten tun dabei so, als würden sie die Demokratie und ihre Bevölkerung verteidigen wollen. Beide Seiten lügen.

Erdogan geht es nur um eins: Er will um jeden Preis an der Macht bleiben. Doch er hat immer mehr Probleme. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich von Woche zu Woche, Armut und Arbeitslosigkeit steigen. Und seine Politik verschlimmert alles noch. Die Unzufriedenheit wächst. Im Frühjahr ist es ihm nicht einmal gelungen, ohne offensichtlichen Wahlbetrug sein Referendum zu gewinnen – trotz des Klimas aus Angst und Einschüchterung, das er geschaffen hat.

Deshalb braucht Erdogan den Konflikt mit Deutschland, auch wenn er dadurch neue Probleme bekommt. Es ist eine Flucht nach vorne: Der Versuch, von den Problemen abzulenken und die Bevölkerung in einem Gefühl nationaler Solidarität wieder hinter sich zu vereinen.
Mit seinen provokativen Sprüchen, den Besuchsverboten und der willkürlichen Verhaftung von deutschen Staatsbürgern will er das Gefühl vermitteln, dass die Türkei unter ihm ein starkes Land geworden sei. Dass er sich, anders als die früheren Regierungen, nicht mehr von den Großmächten USA und Deutschland erniedrigen lässt.
Und er will regelrecht, dass die deutsche Regierung auf die Provokationen mit Verurteilungen, Drohungen und Sanktionen reagiert. Denn er hofft, dass sich die türkische Bevölkerung – wenn ihr Staat beleidigt und angegriffen wird – ebenfalls angegriffen fühlt und sich daher hinter Erdogan stellt. Das ist eine gefährliche Falle, für die Bevölkerung in der Türkei ebenso wie die Arbeitenden türkischer Herkunft in Deutschland!

Für die Arbeitenden in Deutschland, die keine türkischen Wurzeln haben, besteht eine andere, wenn auch ähnliche Gefahr. Nämlich dass sie sich ihrerseits hinter die Regierenden hier stellen – als würden die auf einmal die Interessen der Bevölkerung vertreten.

Schlimmer noch ist die Falle, die rechte Parteien wie AfD und Teile der CDU aufstellen. Sie setzen die türkische Bevölkerung mit dem türkischen Staat gleich, bezeichnen die Arbeiter türkischer Herkunft in Deutschland als „kleine Erdogans“ und versuchen so gezielt, Rassismus und Feindschaft unter den Arbeitern zu säen.
Erdogan kann sich freuen. Denn gerade der Rassismus trägt dazu bei, dass sich türkischstämmige Arbeiter Erdogans Nationalismus anschließen.

Sollte Erdogan mit seiner Politik Erfolg haben, so liegt ein bedeutender Teil der Verantwortung hierfür bei der EU.
Schon seit über 60 Jahren nämlich hat sich die Türkei um eine Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft beworben. Seit 20 Jahren (!) finden Beitrittsverhandlungen statt. Und die Türkei hat jahrelang alles getan, was man von ihr verlangt hat: Sie hat ihre Zölle auf europäische Waren abgeschafft. Sie hat alle möglichen Gesetze geändert. Dank dieser „Beitrittsverhandlun-gen“ verdienen sich europäische (vor allem deutsche) Konzerne seit 20 Jahren eine goldene Nase an der Türkei. Doch die versprochene EU-Mitglied-schaft hat die Türkei nie bekommen. Ja, bis heute hat sie nicht einmal die Visa-Freiheit für türkische Bürger, obwohl EU-Bürger seit vielen Jahren ohne Visum in die Türkei reisen können.
 
Die EU-Beitrittsverhandlungen waren also nicht, wie man uns heute weismachen will, ein Gefallen an die Türkei – sondern im Gegenteil ein Mittel, die Türkei auszubeuten. 20 Jahre lang hat die EU, und allen voran der deutsche Staat, die Türkei dabei mit Arroganz und Verachtung an der Nase herumgeführt. Dadurch haben sie maßgeblich dazu beigetragen, dass in der Türkei nationalistische und islamistische Kräfte stärker wurden.

Der deutsche Staat ist in diesem Konflikt also nicht das unschuldige Opfer. Und sein Problem ist auch nicht, dass Erdogans Regime die Türkei immer mehr in eine Diktatur verwandelt. Auch in der Vergangenheit hat sich der deutsche Staat einen feuchten Kehricht darum geschert – Hauptsache, der NATO-Staat Türkei hat gegenüber dem Nahen Osten, Russland und im eigenen Land die Politik umgesetzt, die die USA und die EU von ihm verlangt haben.
In den 80er Jahren gab es einen Militärputsch und eine Diktatur, um die türkische Arbeiterklasse niederzuschlagen, die zu viel streikte und forderte. Gewerkschaften und Parteien wurden verboten, tausende verhaftet und gefoltert. Der deutsche Staat hatte zu diesem Regime die besten Beziehungen. Genauso herzlich waren sie zum türkischen Staat in den 90er Jahren, als dieser (genau wie heute) einen grausamen Krieg gegen die kurdische Minderheit führte.

Und trotz aller Reibungen bleiben auch weiter viele enge Beziehungen bestehen. Noch im August hat Deutschland Waffen an den türkischen Staat geliefert. Nicht zuletzt, weil dieser dem Westen weiter bei seiner Kriegspolitik im Nahen Osten hilft und für die EU die Flüchtlinge an der Grenze festhält.
So widerwärtig Erdogan auch ist, wir dürfen uns nicht vor den Karren unserer Regierung spannen lassen. Ihr geht es in dem Konflikt mit Erdogan nicht darum, einem Diktator Einhalt zu gebieten, sondern dafür zu sorgen, dass dieser Diktator den westlichen Großmächten wieder mehr gehorcht.

Die größte Gefahr des heutigen Konflikts für uns Arbeiter besteht darin, dass er die deutschen und türkischen Nationalisten stärker macht. Diese Kräfte wollen einen Keil zwischen uns treiben. Sie versuchen die Idee zu verbreiten, es gäbe zwei feindliche Gruppen von Arbeitern, die sich – wie ihre Regierungen – gegenseitig bekämpfen müssten.

In Deutschland leben mehrere Millionen Arbeiter türkischer Herkunft. Die Mehrheit von ihnen ist hier geboren. Und auch die übrigen arbeiten seit Jahrzehnten hier, oft in den härtesten Jobs. Ob bei Opel, in den Stahlwerken oder Krankenhäusern, in vielen Streiks standen und stehen sie Seite an Seite mit ihren „deutschen“ Kollegen. Viele Streiks hätte es ohne sie gar nicht gegeben.
Deshalb ist es lebenswichtig, dass es Arbeiter gibt, die ein anderes Bewusstsein verbreiten: Die Überzeugung, dass alle Arbeiter – in Deutschland so wie in der Türkei – zu einer Klasse gehören, der Arbeiterklasse.

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