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Nr. 31, Mai 2011 - Leitartikel

Für das Recht aller Menschen, sich frei in der Welt zu bewegen

Seit dem 1. Mai brauchen die Arbeiter aus Polen, Ungarn und sechs weiteren osteuropäischen EU-Ländern keine Arbeitserlaubnis mehr, um in Deutschland zu arbeiten. Seit 2004 sind diese Länder schon in der EU, doch erst jetzt bekommen die osteuropäischen Arbeiter dieselben grundlegenden Rechte, die eigentlich jedem EU-Bürger zustehen: das Recht, sich frei in der EU um Jobs zu bewerben und den Wohnsitz wechseln zu können.

Diese Rechte sind das Positive, was die EU den Arbeitenden gebracht hat. So dürfen deutsche Arbeitende zum Beispiel jederzeit in Belgien, Holland, Ungarn oder Spanien arbeiten oder dorthin umziehen, ohne Visum und Arbeitserlaubnis.

2004 hat Deutschland zwar für Waren und Kapital die Grenzen sofort abgeschafft, damit deutsche Firmen ohne Einschränkungen in die neuen EU-Staaten gehen und dort die Arbeiter ausbeuten können, damit deutsche Firmen durch Produktion und Handel in Osteuropa – grenzenlos – Profite machen können. Für die osteuropäischen Arbeitenden hingegen blieben die Grenzzäune stehen.

Sie bekamen in Deutschland höchstens eine Arbeitsgenehmigung für 6 Monate. Und verweigerten die Ämter ihnen diese, blieb vielen nichts anderes übrig, als auf dem Bau, im Lager oder in der Pflege schwarz zu arbeiten: ohne Krankenversicherung, mit schlechten Wohnungen und niedrigsten Löhnen – die teilweise monatelang nicht mal gezahlt wurden. Unternehmer nutzten gnadenlos die osteuropäischen Arbeiter ohne Papiere aus, um sie gegen die Arbeiter mit Papieren auszuspielen.
Das mit der Grenzöffnung von einigen Politikern und Gewerkschaftsvorsitzenden heute befürchtete „Lohndumping“ gibt es also in Wahrheit schon seit Jahren… ganz ohne Arbeitsmarktöffnung.
Trotzdem haben uns Politiker jahrelang mit den widerwärtigsten Methoden Angst zu machen versucht und haben von „Horden an Billiglohnarbeitern“ gesprochen, die „Deutschland erstürmen“ und unsere Löhne zerstören würden, sobald die Grenzen offen seien.
Wie glaubwürdig aber sind solche Sprüche aus dem Mund von Politikern, die selber seit Jahren unsere Löhne in den Keller drücken, mit 1-Euro-Jobs, Ausweitung der Leiharbeit und vielen anderen Maßnahmen.

Wie es wirklich aussieht, kann man sich in Frankreich, Belgien und fast allen anderen EU-Ländern anschauen. Dort können nämlich bereits seit 2009 die Arbeitenden aus Osteuropa frei arbeiten. Auch dort hatten Politiker fast hysterisch vor „dem polnischen Klempner“ gewarnt, der in Scharen kommt, für halbes Geld arbeitet und Arbeitsplätze und Löhne vernichten würde. Und, was ist passiert? – Nichts.
Der „Massenansturm“ blieb aus.

Und auch für Deutschland erwarten alle seriösen Schätzungen etwas Ähnliches. Für viele lohnt es sich inzwischen kaum noch zu kommen: Mit den Minijobs, Niedriglöhnen und den hohen Preisen für Mieten, Lebensmittel oder Strom in Deutschland können sie weder ein anständiges Leben hier bezahlen, noch ein Leben für ihre Familien in der Heimat finanzieren... wo ebenfalls die Preise explodieren. Erwartet werden daher höchstens 100.000 Arbeitende im nächsten Jahr, vor allem Fachkräfte für Krankenhäuser, Altenheime und Industriebetriebe.

Die Öffnung des Arbeitsmarktes könnte den europäischen Arbeitern gemeinsame Kämpfe für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und andere Verbesserungen in Zukunft sogar erleichtern.
Zum einen, weil die Kollegen aus Osteuropa sich nicht mehr illegal in Angst ausbeuten lassen müssen. Vor allem jedoch, weil jede Grenze und jede Barriere, die fällt, uns helfen kann zu spüren, dass wir Arbeiter die gleichen sozialen Interessen haben.
Und das bedeutet auch, diejenigen ins Visier zu nehmen, die wirklich unsere Löhne angreifen, Arbeitsplätze vernichten und Betriebe schließen: nämlich die Besitzer der großen Industrien und Banken.

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