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Nr. 102, November 2017 - Leitartikel

Die Angriffe der Bosse gehen auch ohne Regierung weiter

Nach dem wochenlangen Zirkus der Jamaika-Sondierungsgespräche hat die FDP die Verhandlungen platzen lassen. Oh, es geht ihr dabei nicht um Inhalte. Sie setzt offensichtlich darauf, dass sie mit diesem spektakulären Schachzug (auch bei Neuwahlen) mehr Einfluss gewinnen kann. Es ist nur Taktik − genau wie bei allen anderen Parteien.

Wird es nun doch eine Große Koalition geben, eine Minderheitsregierung, Neuwahlen,…? Alles ist offen. Und auch, welche langfristigen Folgen die Regierungskrise haben wird. Denn sie ist kein bloßer Zufall. Sie ist ein politischer Ausdruck der wirtschaftlichen Krise, in der CDU und SPD seit vielen Jahren die Politik der Kapitalisten gegen die Arbeiter durchsetzen. Beide Parteien bezahlen dafür: Sie verlieren Stimmen, neue Parteien entstehen, die Unzufriedenheit wächst. Und so wird es schwerer, stabile Regierungen zu bilden.

Wie auch immer aber die Regierung künftig aussieht, sie wird weiterhin die Interessen der Kapitalisten durchsetzen. Die Kapitalisten verlangen es. Wir Arbeitenden müssen uns also darauf vorbereiten, unsere Interessen selber zu verteidigen. Denn die Angriffe auf uns werden weitergehen. Und sie gehen schon jetzt weiter, wo wir nicht einmal eine Regierung haben. Man braucht sich doch nur Siemens anzuschauen.

Mehrere Werke will Siemens schließen und 7.000 Arbeiter entlassen – vor allem in Ostdeutschland und dem Ruhrgebiet, wo Arbeitslosigkeit und Armut schon jetzt am größten sind. Dabei macht Siemens Jahr für Jahr Rekordgewinne. Allein im letzten Jahr waren es 6,2 Milliarden Euro. Es gibt also wirklich keine Rechtfertigung, auch nur einen einzigen Arbeiter zu entlassen!
Deshalb muss man ihnen das Recht zu entlassen wegnehmen. Man muss Entlassungen verbieten. Nur so kann man verhindern, dass all diese Kapitalisten von Thyssen, Air Berlin, VW oder Siemens immer mehr Arbeiter zu Arbeitslosigkeit und Unsicherheit verdammen und ganze Gegenden verarmen.

Und nur so kann man verhindern, dass alle übrigen Arbeiter immer mehr schuften müssen. Denn das ist die andere Folge ihres Stellenabbaus. Siemens hat es offen angekündigt: Sie wollen einige Werke schließen, um die übrigen noch „mehr auszulasten“. Die einen Arbeiter sollen also entlassen werden und die übrigen dafür noch mehr und unter noch größerem Druck arbeiten.

In quasi allen Betrieben erleben wir diese Entwicklung. Wir sollen immer mehr arbeiten, schneller, zu immer unmöglicheren Zeiten... Und nun wollen die Kapitalisten auch noch die letzten Regeln abschaffen, die sie dabei etwas einschränken.
In der Metallindustrie verlangen sie, dass auch der letzte Rest der verpflichtenden 35-Stunden-Woche verschwindet, damit sie die Arbeitszeit nach Belieben erhöhen können. In NRW haben die Einzelhandelskonzerne mit Hilfe der Landesregierung schon durchgesetzt, dass sie die Verkäuferinnen künftig samstags bis Mitternacht arbeiten lassen dürfen – und an doppelt so vielen Sonntagen im Jahr.

Und gemeinsam mit FDP und Teilen der CDU bereiten die Kapitalisten derzeit einen großen Angriff auf die Arbeitszeiten aller Arbeitenden vor. Sie wollen den 8-Stunden-Tag komplett abschaffen, ebenso die 11 Stunden Ruhepause zwischen zwei Arbeitstagen. Sie wollen jeden von uns zwingen können, an einem Tag bis 22 Uhr zu arbeiten und am nächsten Tag um 6 Uhr morgens wieder anzufangen. Oder mehrere Wochen lang 10-12-Stunden-Schichten zu machen.
In vielen kleineren Betrieben und Subfirmen, für viele Leiharbeiter und Befristete ist das längst Alltag – obwohl es verboten ist. Doch nun wollen die Bosse, dass es legal wird. Damit sie noch leichter jeden von uns so lange und flexibel ausbeuten können, wie sie wollen!

Die IG Metall-Führung behauptet, sie wolle mit ihrer Tarifrunde nun das Gegenteil erreichen: nämlich, dass die Arbeiter selbstbestimmter über ihre Arbeitszeit entscheiden könnten. Dazu soll jeder Arbeiter das Recht bekommen, seine Arbeitszeit zwei Jahre lang auf 28 Stunden die Woche zu verringern.
Doch das ist wahrlich keine Forderung gegen die Unternehmer, keine Antwort auf ihre Angriffe. Denn bezahlen sollen die Arbeiter es großteils selber. Die Arbeitenden sollen also einzig die „Freiheit“ erhalten, kurzzeitig den Arbeitsdruck etwas zu verringern… indem sie auf Lohn verzichten.

Was für eine Freiheit! Wie viele Arbeiter malochen schon in Vollzeit für einen Lohn, der kaum bis zum Ende des Monats reicht – und können sich bestimmt nicht die „Freiheit“ leisten, auf Lohn zu verzichten. Und in wie vielen Betrieben wird der Chef dem einzelnen Arbeiter, der seine Arbeitszeit senken will, einfach antworten: „Du willst weniger arbeiten? Kein Problem, dann brauchst du gar nicht mehr arbeiten zu kommen.“
Und überhaupt: Nachdem die Bosse uns seit Jahren immer mehr arbeiten lassen, ohne uns die Löhne zu erhöhen – ja die Löhne zum Teil gesenkt haben – kann unsere Perspektive nicht darin bestehen, uns zu entscheiden, worauf wir eher verzichten wollen, auf Lohn oder Erholung: Wir brauchen mehr Lohn UND weniger Arbeit – für alle!

Die kapitalistische Klasse hat klare Ziele. Sie weiß, wo sie hin will. Und die künftige Regierung wird ihr dabei helfen. Sie werden uns an den Kragen gehen. Was wir Arbeitenden in dieser Lage brauchen, sind keine Scheingefechte. Sondern ein klares Bewusstsein unserer Interessen und Perspektiven.

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