Startseite > Das Rote Tuch > 98 > Vor 100 Jahren – Die Russische Revolution (von Februar bis Juni)

Nr. 98, Juni 2017 - Verschiedenes

Vor 100 Jahren – Die Russische Revolution (von Februar bis Juni)

Vor hundert Jahren, im Juni 1917, findet in Petrograd (heute St. Petersburg) der erste gesamtrussische Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte statt. Nach Jahrhunderten der Herrschaft eines allmächtigen Zaren diskutieren nun Arbeiter und kleine Bauern – gewählt von 20 Millionen der Ihrigen – wie die Zukunft ihres Landes aussehen soll!
Schon lange ist das Regime des Zaren verhasst und die Unzufriedenheit über die bittere Armut, die politische Unterdrückung und die Rückständigkeit des Landes groß. Der Erste Weltkrieg, in dem Millionen Männer für die Machtinteressen des verhassten Regimes niedergemetzelt werden, während die Familien zuhause hungern müssen, bringt das Fass dann zum Überlaufen.

Am internationalen Frauentag im Februar 1917 beginnen die Arbeiterinnen der Textilindustrie in Petrograd spontan zu streiken und fordern Brot. Sie ziehen zu anderen Fabriken, der Streik weitet sich aus, und bereits am übernächsten Tag streikt die gesamte Stadt. Es geht längst nicht mehr nur um Brot. Die Streikenden fordern „Nieder mit der Zarenherrschaft“ und „Nieder mit dem Krieg“. Der Zar schickt die Armee. Doch die Soldaten – meist Bauern, die ebenfalls vom Krieg die Nase voll haben – weigern sich zu schießen. Der Zar ist machtlos. Die Revolution hat begonnen.

Nun geht alles ganz schnell. Die Arbeiter entwaffnen Offiziere und Polizei. Und sofort organisieren sie sich in Räten (auf Russisch Sowjet), die sie in dem Revolutionsversuch von 1905 erfunden und erprobt hatten: In allen Fabriken und aufständischen Regimentern wählen die Arbeiter und Soldaten ihre Vertreter, die sich nun täglich treffen, um die Revolution zu leiten. Die Räte besetzen das Kommunikationssystem (Post, Telegrafen, Bahnhöfe, Druckereien). Sie besetzen Reichsbank, Schatzkammer und Notenbank. Und sie kümmern sich sofort um die Versorgung der Bevölkerung. Mit allen Fragen und Problemen wenden sich die Arbeiter, Soldaten und Bauern an die Sowjets, die für sie die einzigen legitimen Vertreter der Revolution sind: die neue Macht.

Trotzdem geben die Sowjets nach kurzem ihre Regierungsmacht ab. Sie übergeben sie freiwillig an eine, auf die Schnelle gebildete Regierung, die aus Vertretern der bürgerlichen Parteien und sogar aus Monarchisten und Adeligen besteht. Diese Regierung sollte von nun an über alle wichtigen Fragen entscheiden!

Wieso taten die Sowjets das? Die beiden sozialistischen Parteien, die an der Spitze der Sowjets standen (die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre) waren der Überzeugung, dass in diesem rückständigen Land die kleine russische Arbeiterklasse nach der jahrzehntelangen Unterdrückung nicht die Fähigkeit hätte, die Gesellschaft zu leiten und zu organisieren. Sie waren der Überzeugung, dass nur das Bürgertum hierzu in der Lage sei. Und die Mehrheit der Arbeiter und Soldaten, die in dieser völlig neuen Lage erst einmal verschiedene politische Vorschläge ausprobieren mussten, vertrauten ihnen zunächst.

Schnell jedoch zeigt sich, dass die bürgerliche Regierung im Gegenteil nicht einmal fähig ist, auch nur die drängendsten Probleme zu lösen. Unter ihr geht der Krieg weiter – unter fadenscheinigen Vorwänden. Denn die kapitalistische Klasse will ihre Pläne nicht aufgeben, durch den Krieg neue Herrschaftsgebiete und Profitquellen zu erobern.
Unter ihr bekommen die Millionen landlosen Bauern weiterhin kein Land. Die bürgerliche Regierung scheut sich, das geheiligte Eigentum der Großgrundbesitzer anzutasten. Außerdem verkauft ein Teil der Adeligen aus Angst vor der Revolution seine Ländereien freiwillig an reiche Bauern und Kapitalisten. Die Regierung, die die Interessen eben dieser Kapitalisten vertritt, hat kein Interesse daran, die Entwicklung zu stoppen und das Land stattdessen umsonst unter den Millionen armen Bauern aufzuteilen.

Und die Versorgung mit Brot, Kohle und Kleidung organisiert die Regierung auch nicht. Denn dafür müsste sie die Kapitalisten zwingen, ihre Waren zu bezahlbaren Preisen zu verkaufen. Stattdessen schützt sie die Kapitalisten dabei, wie sie aus dem Mangel und Elend noch Profit schlagen, indem sie die Preise immer weiter in die Höhe schrauben.

Vier Monate nach dem Sturz des Zaren ist die Lage für die arbeitende Bevölkerung also noch immer katastrophal. Die Bolschewiki, die Partei von Lenin und Trotzki, sind die einzige, die den Grund hierfür erklären. Bereits im März 1917 schreibt Lenin: Die bürgerliche „Regierung kann (…) dem Volk weder Frieden, noch Brot, noch Freiheit geben.“ Um dies zu bekommen, können sich die Arbeiter „nur auf die eigenen Kräfte, auf die eigene Organisation, auf den eigenen Zusammenschluss, auf die eigene Bewaffnung“ verlassen. Die Arbeiter und Bauern müssen selber die vollständige Macht übernehmen. „Alle Macht den Sowjets“!

Am Anfang ist die kleine bolschewistische Partei mit diesen Ansichten in der absoluten Minderheit. Doch mit jedem Tag erfahren mehr Arbeiter, dass die Bolschewiki recht haben – als erstes in der Hauptstadt Petrograd, dem Herz der Revolution und Sitz der bürgerlichen Regierung. Als im Juni hier der erste gesamtrussische Sowjetkongress zusammenkommt, demonstrieren bereits hunderttausende Petrograder Arbeiter unter der Losung „Alle Macht den Sowjets“. Und im Oktober 1917, nach vier weiteren Monaten reicher Erfahrungen und Erkenntnisse, übernehmen die Arbeiter, Soldaten und Bauern in ganz Russland endgültig selber die Macht.

Das Rote Tuch
Archiv