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Nr. 168, August 2023 - Ihre Gesellschaft

Vor 50 Jahren: „Bir mark zam, eine Mark mehr“ – ein Sommer ‚wilder Streiks‘ für höhere Löhne in Deutschland

Vor 50 Jahren, im Sommer 1973, gab es vor allem in der Metallindustrie eine Welle wilder Streiks. Anfang des Jahres hatte die IG Metall einen Tarifabschluss vereinbart. Doch mit der Ölkrise schossen die Preise kurz darauf massiv in die Höhe. Viele fanden, man könne mit erneuten Lohnerhöhungen doch nicht bis zur nächsten Tarifrunde warten. In über 300 Betrieben begannen Arbeiter*innen, spontan dafür zu streiken. Sie streikten „wild“, das heißt ohne Aufruf und nicht selten gegen den Willen der Gewerkschaft – was offiziell nicht erlaubt ist.

An vorderster Stelle in diesen Streiks standen die sogenannten Gastarbeiter*innen aus der Türkei, Griechenland, Jugoslawien, Spanien... Sie hatten überall in den Fabriken die härtesten und gesundheitsschädlichsten Jobs, die obendrein am schlechtesten bezahlt wurden. Die stark steigenden Preise trafen sie daher besonders hart.

Den größten Streik gab es bei Ford in Köln. Nach den Werksferien kamen hier zahlreiche türkische Arbeiter zu spät aus dem Urlaub zurück. Die Werksleitung, die wegen der Ölkrise Stellen streichen wollte, nutzte dies als Vorwand, um 300 von ihnen zu entlassen.
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Spontan begannen am 24. August 10.000 Arbeiter*innen zu streiken und forderten unter anderem eine Mark mehr pro Stunde und die Rücknahme der Kündigungen.

Tausende Streikende hielten das Ford-Werk 6 Tage lang besetzt. Sie kochten gemeinsam und schliefen auf Matratzen in den Werkshallen. Zu Anfang streikten auch zahlreiche deutsche Arbeiter mit. Und da sie der Gewerkschaft nicht trauten, wählten die Arbeiter ihre eigene Streikleitung, die aus neun Türken, zwei Italienern, einem Ju­goslawen und zwei Deutschen bestand.
Gewerkschaft und Teile des Betriebsrats hetzten gegen diesen „wilden“ Streik, in dem sie nicht das Sagen hatten und der obendrein von „Ausländern“ geleitet wurde. Unterstützt von der Presse, die mit rassistischen Schlagzeilen wie „Türkenterror“ Stimmung machte, schafften sie es, dass sich die deutschen Arbeiter nach mehreren Tagen aus dem Streik zurückzogen.

Kaum war der Streik durch diese Spaltung geschwächt, fühlte sich die Ford-Geschäftsführung stark genug, zum Angriff überzugehen. Sie organisierte eine Kampftruppe aus Werkschutz, Meistern, Zivilpolizisten und einigen rechten Arbeitern, die am nächsten Morgen – mit Schlagringen und Knüppeln bewaffnet – einen Demonstrationszug der Streikenden im Werk angriffen.

Sie schlugen Streikende blutig und jagten sie aus dem Werk, wo schon die Polizei bereitstand... die natürlich nicht den Schlägertrupp der Geschäftsführung, sondern die gesamte Streikleitung sowie weitere Streikende als „Unruhestifter“ festnahm. Das brach dem Streik das Genick, und kurz darauf wurden über 100 Arbeiter entlassen.
Auch wenn der Streik als Niederlage endete, wurde er im ganzen Land zum Symbol: Die Kapitalisten hatten gedacht, sie könnten die ausländischen Arbeiter*innen ausbeuten, wie sie wollen. Doch nun erhoben diese den Kopf und wehrten sich.
Die brutale Antwort der Geschäftsleitung und des Staates machte deutlich, wie viel Angst die Herrschenden vor diesem spontanen, massiven und selbst organisierten Streik hatten.

Fast gleichzeitig machte ein Streik beim Autozulieferer Pierburg in Neuss obendrein deutlich, was möglich ist, wenn Migranten und Deutsche zusammenhalten. Dort arbeiteten 3.000 Leute, 1.700 davon Frauen, fast alles Migrantinnen. Diese bekamen mit Abstand die niedrigste Lohngruppe, die Lohngruppe 2.
Im August 1973 legte der Großteil der Migrantinnen ihre Arbeit nieder und forderten die Abschaffung der Lohngruppe 2 und eine Mark mehr für alle.
Auch hier hatte die Gewerkschaft nicht zum Streik aufgerufen. Mit dem Argument, der Streik sei daher illegal, holte die Geschäftsleitung die Polizei, die mehrere Streikende verhaftete. Hilfesuchend wandten sich die streikenden Frauen daraufhin an die deutschen Arbeiter, die bis dahin nicht mitgestreikt hatten. Am 4. Streiktag sprachen sie jeden einzelnen an. Eine Gruppe streikender Frauen brachte einen riesigen Strauß Rosen zu den Facharbeitern im Werkzeugbau. Auf der Karte stand: »Viele Grüße von den streikenden Frauen an den Werkzeugbau. Helft uns!« Noch am selben Tag schlossen sich fast alle Männer dem Streik an.

Schon vor dem Streik gab es bei Pierburg eine Reihe gewerkschaftlich aktiver Arbeiter*innen, die versuchten, Kontakte zwischen Migranten und Deutschen herzustellen und die Idee zu verbreiten, dass alle Arbeitenden zusammenhalten müssen. Dies hat dazu beigetragen, dass der Streik sich ausweiten konnte.
Als die Geschäftsleitung sah, dass die deutschen Arbeiter sich anschlossen, knickte sie ein. Schon einen Tag später wurde die Lohngruppe 2 abgeschafft, und alle Arbeitenden bekamen als Ausgleich für die Inflation eine Lohnerhöhung von 53 bis 65 Pfennig pro Stunde.

Die wilden Streiks 1973 waren nicht nur die einzig richtige Antwort auf die stark steigenden Preise. Sie trugen dazu bei, dass Sonderregeln für Migranten und Frauen abgeschafft wurden. Und vor allem führten sie dazu, dass Migranten und Deutsche, Frauen und Männer in den Betrieben näher zusammenrückten und von da an fast immer zusammen kämpften, was alle stärker gemacht hat.

Heute sind es Migranten aus Osteuropa und Geflüchtete, die die härtesten und schlecht bezahltesten Arbeiten verrichten müssen. Auch heute erleben wir außerdem eine Zeit hoher Inflation und Krise, die die Kapitalisten auf alle Arbeitenden abwälzen wollen. Und wir erleben eine ständige Hetze gegen Migranten, die uns von den eigentlichen Verursachern unserer Probleme – den Kapitalisten – ablenken soll. Genau wie damals gibt es nur eine Chance, wenn wir darauf nicht hereinfallen, sondern zusammenhalten und uns gemeinsam wehren. Und wenn es Arbeiterinnen und Arbeiter gibt, die sich hierfür in Betrieben und Stadtteilen aktiv einsetzen.

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