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Nr. 89, September 2016 - Internationales

Türkei-Deutschland: „Ich liebe dich – ich dich auch nicht“

„Wir mögen uns, wir mögen uns doch nicht, ach nein, wir mögen uns ja doch“: Es ist ein schlechtes Theaterstück, das die deutsche und die türkische Regierung uns da vorspielen.

Die deutsche Regierung behauptet, eigentlich sei die Türkei ja ein wichtiger und verantwortungsbewusster Partner, aber sie könne die undemokratische Haltung Erdogans gegen die Presse und seine politischen Gegner nicht einfach so akzeptieren. Ach ja?

Die Regierung ist sonst nicht so empfindlich: Sie ist ein guter Freund von Saudi-Arabien, von Ägypten und anderen Ländern, deren finstere Diktatur sie kein bisschen stört… Hauptsache, die Geschäfte laufen gut.

Und es stört sie auch nicht, seit dem Flüchtlingsabkommen alle Flüchtlinge dem Regime in der Türkei auszuliefern.
Nein, die deutsche Regierung ebenso wie die anderen Regierungen der EU stört nicht Erdogans brutales Vorgehen gegen seine politischen Gegner – ebenso wenig, wie sie das bei Erdogans Vorgängern gestört hat.
Was sie stört ist, dass Erdogan nicht mehr so gehorsam ist wie früher. Jahrzehntelang war die Türkei ein folgsames NATO-Mitglied, das gemacht hat, was die USA verlangte. Und jahrzehntelang hatten die EU-Staaten in der Türkei alle Handels- und Visafreiheiten, aber nicht umgekehrt.

Doch Erdogan weiß, dass die Großmächte ihn im Moment brauchen, vor allem wegen des Syrienkriegs und auch wegen der Flüchtlinge. Deshalb ist er etwas frecher und eigenständiger geworden und will für seine Dienste eine Gegenleistung erhalten.

Doch an den grundlegenden Machtverhältnissen hat sich nichts geändert. Denn wirtschaftlich und finanziell ist die Türkei abhängig von den USA und der EU – und nicht umgekehrt. So ist die Türkei in ihrem Außenhandel vollkommen von der EU abhängig: 70% ihrer Geschäfte macht sie mit der EU.
Und wie sonst könnte man erklären, dass die Türkei das Flüchtlingsabkommen noch immer brav umsetzt, obwohl sie die im Frühjahr versprochene Visa-Freiheit noch immer nicht bekommen hat?

Gegenüber ihren Wählern spielen alle Theater: Erdogan präsentiert sich als Verteidiger des türkischen Nationalstolzes, die konservativen und rechtspopulistischen Parteien in Europa als Beschützer der „demokratischen EU vor der diktatorisch-muslimischen Türkei“. Doch hinter der Fassade geht es bei dem Tauziehen nur um eins: um wirtschaftliche Interessen und Macht.

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