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Nr. 107, April 2018 - Ihre Gesellschaft

1968, vor fünfzig Jahren: Ein Aufbegehren der Jugend in vielen Ländern der Welt

Die Revolte der Jugend und Studenten, die im Frühjahr 1968 – vor genau 50 Jahren – ihren Höhepunkt hatte, war ein Aufbegehren, das sich wie ein Lauffeuer um die halbe Welt ausbreitete.

Die Jugend der 60er Jahre wächst auf in dem ständigen Kalten Krieg, der das gesamte politische Leben beherrscht. Sie wird groß umgeben von konservativen, rückschrittlichen, autoritären Lebensweisen, die die Erziehung, Schule und Uni und den ganzen Staat beherrschen. Und ein wachsender Teil der Jugend kann und will diese Zustände nicht länger ertragen.

Ein entscheidender Motor der Revolte ist die Empörung über den Krieg, den die USA in Vietnam führen. In den USA kommen die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Bewegung der Schwarzen gegen Rassengesetze und soziale Ausgrenzung zusammen und verstärken sich gegenseitig. 1967, 1968 kommt es überall und immer wieder zu Massenprotesten.

Auch in Deutschland ist die Jugend erschrocken und empört, dass die angebliche Beschützerin der Demokratie und Westberlins in Vietnam ein ganzes Volk auf grausamste Weise terrorisiert. Gleichzeitig entdeckt sie mit den Auschwitz-Prozessen Anfang der 60er Jahre die Bilder der totgeschwiegenen Vernichtungslager der Nazis. Sie fängt an, die Vergangenheit ihrer eigenen „demokratischen“ Richter, Polizeichefs, Uni-Professoren und Politiker zu hinterfragen… bis hin zu Bundeskanzler Kiesinger, von dem sich herausstellt, dass er von 1933 an bei den Nazis dabei war.

Als 1967 die Polizei dann eine Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien mit brutaler Gewalt niederschlägt und einen Studenten niederschießt, läuft das Fass über: Ein Jahr lang kommt es zu Massendemonstrationen im ganzen Land.

Nach der politischen Eiszeit des Kalten Krieges stellt die Jugend nun alles in Frage: Sie diskutiert über alles, über die Ausbeutung, den Imperialismus, den Rassismus, die heuchlerische Moral, die Unterdrückung der Frauen, das Bildungssystem. Sie diskutiert über verschiedene politische Alternativen zum Kapitalismus und zum angeblich „realsozialistischen“ Ostblock.
Und dies in vielen Ländern der Welt. Ob in Belgien, in Japan, in Mexiko, im diktatorischen Spanien: Überall besetzen Studenten die Universitäten und diskutieren darüber, wie eine andere Zukunft aussehen kann. Die Bewegung springt sogar über den Eisernen Vorhang auf Polen und die Tschechoslowakei über – und das, obwohl die Herrschenden auf beiden Seiten alles getan haben, um diesen hermetisch abzuriegeln und der Bevölkerung weiszumachen, dass sie in zwei völlig gegensätzlichen Regimen und Welten leben würden.
Von wegen! Im Prager Frühling diskutieren Zehntausende in den Unis, den Fabriken und Büros darüber, wie man weder Kapitalismus noch stalinistische Diktatur, sondern einen Weg zu einem wirklichen Sozialismus finden könne.
Überall reagieren Staat und Presse mit Gewalt und Hetze auf die protestierende Jugend. Sowjetische Panzer ziehen in Prag ein. In Mexiko begeht das Militär im Herbst einen regelrechten Massenmord: Es greift eine friedliche Demonstration an und ermordet 300 Studenten. In den USA hetzt die Polizei Hunde auf die Demonstranten, und am 4. April 1968 erschießt ein Attentäter Martin Luther King.

Nur 7 Tage später wird Rudi Dutschke, Wortführer der deutschen Studentenbewegung, bei einem Anschlag lebensgefährlich verletzt. Er wird zehn Jahre später an den Spätfolgen sterben. Während die Polizei mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Studenten vorgeht, hetzt die BILD-Zeitung Tag für Tag gegen die Studentenbewegung und schreibt: „Man darf nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“ – eine Aufforderung, die der Attentäter wörtlich nimmt und auf Dutschke schießt.
Zum Teil erreicht der Staat mit seiner Brutalität das Gegenteil. In Frankreich beteiligen sich hunderttausende Arbeiter, schockiert über das Verhalten der Polizei und beeindruckt von der Entschlossenheit der Studenten, an einer Solidaritätsdemonstration. Einzelne Betriebe beginnen daraufhin zu streiken. Wenige Tage später legt ein sechswöchiger Generalstreik das Land lahm.

In Italien ist die Bewegung von Anfang an sowohl Arbeiter- als auch Studentenbewegung. Damit beginnt die Bewegung in einigen Ländern auch die Arbeiter zu erreichen: die gesellschaftliche Klasse die die wirtschaftliche Macht hätte, die von den Studenten diskutierten Veränderungen der Gesellschaft in die Tat umzusetzen. Doch soweit kommt es nicht.

Hierzu fehlte eine revolutionäre Partei in der Arbeiterklasse. Eine solche Partei hätte alles dafür getan, dass die streikenden Arbeiter ihren Kampf selber in die Hand nehmen, sich treffen, gemeinsam diskutieren, gemeinsam entscheiden, damit ihre Bewegung wirklich ihnen gehört und sie sich dadurch ihrer Kraft und ihrer Möglichkeiten bewusst werden können.
Die bestehenden reformistischen Parteien und Gewerkschaften machen genau das Gegenteil. Sie nehmen alles an Stelle der Arbeiter in die Hand. Ja, sie halten sogar zum Teil gewaltsam die Studenten mit ihren revolutionären Ideen von den bestreikten Betrieben fern und raten den Arbeitern, während des Streiks zuhause zu bleiben. Und sie verkaufen die Massenstreiks, die ein viel weitergehenderes Potenzial hatten, für ein Linsengericht aus ein paar kleinen Zugeständnissen bei Löhnen und Arbeitszeiten… und für die Aussicht auf eine andere Regierung.

Die Bewegung verebbt, ohne den Kapitalismus anzutasten und mit ihm die Ursache für Imperialismus, Krieg, Ausbeutung, Rassismus, dessen Opfer die Menschheit bis heute ist. Selbst die Veränderungen im Alltagsleben, in Moral, Erziehung oder auch in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, die die mächtige Jugendbewegung bewirkt hatte, werden heute wieder in Frage gestellt.

Doch 1968 erinnert auch daran, wie schnell es geschehen kann, dass eine neue Generation mit einem Schlag alles aufrüttelt und in Frage stellt, womit sich ihre Eltern und Großeltern bereits resigniert abgefunden haben – und damit Systeme, die fest im Sattel zu sitzen scheinen, ins Wanken bringen kann.

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