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Nr. 117, März 2019 - Internationales

Algerien: Nach dem ersten Etappensieg gehen die Massenproteste weiter

Der Verzicht von Präsident Bouteflika auf eine fünfte Amtszeit ist ein erster Sieg der Massenproteste in Algerien: Das Regime hoffte, damit die Proteste im Land zu beenden. Doch schon am Tag danach gingen sie weiter. Und am Freitag, den 15. März, zogen erneut Hunderttausende durch die Straßen.

In der Tat wurde zwar verkündet, dass Bouteflika nach 20 Jahren an der Macht nicht erneut kandidiert. Aber gleichzeitig wurden die Präsidentschaftswahlen, die im April stattfinden sollten, auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Plan ist wohl, dass Bouteflika lange genug an der Macht bleibt, bis sich die herrschende Clique auf einen neuen Kandidaten geeinigt hat, der dafür sorgt, dass die reichen Geschäftsleute und Politiker hinter Bouteflika weiter am Futtertrog der Macht bleiben.

Vielen Demonstranten ist bewusst, dass es nichts bringt, nur den Mann an der Spitze auszutauschen. Einer der beliebtesten Slogans ist: „System, hau ab!“ Was meinen sie damit? Das politische System, das wirtschaftliche System? Die Hoffnungen und Ziele sind sehr unterschiedlich, je nachdem, welche gesellschaftliche und politische Gruppe die Forderung stellt.
Welche Perspektive gibt es in diesem Kampf für die arbeitende Bevölkerung? Wir veröffentlichen hierzu Auszüge aus Artikeln unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière vom 13.3.2019.

Noch nie haben so viele Algerier, insbesondere Frauen, ihre Wut herausgeschrien wie am 8. März, dem dritten Freitag, an dem die Massen ihre Wut auf die Straße getragen haben. Die Bevölkerung konnte das Schauspiel nicht mehr ertragen, dass ein alter Mann, der seit seinem Schlaganfall zu Nichts mehr in der Lage ist, an der Spitze des Staates gehalten wird, damit sich hinter den Kulissen die reichen Geschäftemacher aus seinem Umfeld weiter die Reichtümer des Landes unter den Nagel reißen können.

Alle Generationen sind auf die Straße gegangen, ganze Familien und besonders viele junge Leute, Studenten und junge Arbeiter: sowohl diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben als auch die vielen, die eine Arbeit suchen. Sie alle sind empört über das „schlechte Leben“, wie sie es ausdrücken. Der Mindestlohn liegt bei 130 Euro monatlich, und viele verdienen noch weniger – während alles teurer wird. Unsichere Jobs sind die Regel. Die Mehrheit der Bevölkerung ist jung und ein Drittel von ihnen ist arbeitslos. In der Hoffnung auf ein besseres Leben versuchen immer mehr, das Mittelmeer zu überqueren und riskieren dabei ihr Leben.

Das Land ist reich an Erdöl und Erdgas, doch der Öffentliche Dienst wird immer schlechter, die Schulen sind überfüllt und die Krankenhäuser dem Verfall preisgegeben. Letzten Sommer grassierte die Armutskrankheit Cholera. Gleichzeitig reißen sich die Geschäftsleute die Einnahmen aus Öl, Gas, dem Bausektor oder dem Import-Exporthandel unter den Nagel. Ausländische Kapitalisten wie Renault oder Total sind bei der Plünderung vorne mit dabei, angelockt von den Rohstoffen und günstigen Arbeitskräften.
Mit dem Verzicht auf Bouteflika und der Verschiebung der Wahlen versucht das Regime die Proteste zu beenden und dafür zu sorgen, dass ein Jüngerer aus der herrschenden Clique dessen Position einnehmen kann. Das würde darauf hinauslaufen, dass sich jenseits der Fassade… gar nichts ändert.
Man denke nur an die tunesischen und ägyptischen Aufstände 2011, die so große Hoffnungen geweckt haben! Viele Beteiligte haben dabei ihr Leben gelassen. Aber die Hoffnungen der einfachen Bevölkerung in beiden Ländern wurden verraten. Die Reichen haben ihre Macht behalten. In Ägypten hat ein neuer Diktator den Platz seines Vorgängers eingenommen.

In Algerien kann die Armee jetzt eine Gefahr darstellen. In der Vergangenheit hat sie bereits bewiesen, dass sie zu schlimmsten Massakern fähig ist. So im Oktober 1988, als Jugendliche aus den Arbeitervierteln protestierten und Hunderte von der Armee getötet wurden.
Hinter der Einigkeit der Demonstranten, hinter ihrem gemeinsamen Ruf „Bouteflika, hau ab“ verbergen sich außerdem entgegengesetzte Interessen. Die Mehrheit von ihnen möchte einfach eine Arbeit haben und würdevoll leben können. Doch da gibt es auch die Kapitalisten, wie Issad Rebrab oder der algerisch-französische Unternehmer Rachid Nakkaz, die hoffen, bei einem Machtwechsel an der Staatsspitze selber mehr vom Kuchen abzubekommen. Jeder dieser „Oppositionellen“ bringt derzeit seinen Kandidaten für die Nachfolge Bouteflikas in Stellung. Schon tobt also der Kampf um die Plätze an der Staatsspitze.

Und es ist kein Zufall, dass sich diese „Oppositionellen“ quasi ausnahmslos gegen die Streiks ausgesprochen haben, die in zahlreichen Betrieben begonnen haben – und auch gegen den Generalstreik vom 11. März. Sie behaupten, dies würde die „Einheit“ im Kampf gegen Bouteflika in Gefahr bringen. Genauer gesagt: Sie machen Druck, damit die Arbeiter ja nicht auch für soziale Veränderungen, für eine konkrete Verbesserung ihres Lebens zu kämpfen anfangen, angefangen bei höheren Löhnen – Forderungen, die sich damit gegen alle (inländischen und ausländischen) Kapitalisten richten.

Genau darin aber liegt die Hoffnung und Chance der Bewegung. Nur die junge und zahlreiche Arbeiterklasse Algeriens kann – wenn sie anfängt, für ihre Klasseninteressen zu kämpfen – der tiefen sozialen Unzufriedenheit, die sich in den Protesten ausdrückt, eine wirkliche Perspektive bieten.

Ansonsten ist die Gefahr groß, dass selbst die demokratischen Forderungen nicht erfüllt werden. Und welche Veränderung würde ein neuer starker Mann, der genauso herablassend sein wird wie die herrschende Clique, den jungen Arbeitslosen, den Armen bringen?

Es bleibt also zu hoffen, dass die Proteste weitergehen werden. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich auch gegen diejenigen richten werden, die alle von der arbeitenden Bevölkerung geschaffenen Reichtümer für sich beanspruchen. Ganz nach dem Motto vieler Demonstranten, die riefen: „Sie haben die Millionen, wir sind die Millionen“. Ja, die Millionen Unterdrückten müssen die Millionäre ins Visier nehmen!

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