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Nr. 72, Februar 2015 - Internationales

Ukrainische Bevölkerung: gefangen im Machtkampf zwischen USA und Russland

Keiner weiß, wie es weitergehen wird in der Ukraine. Die bisherige Waffenruhe hat genauso wenig gehalten wie all die Waffenruhen vor ihr. Jede der beiden Seiten nimmt die Angriffe der anderen Seite als Vorwand, um sich ihrerseits nicht daran zu halten. Wenig lässt darauf hoffen, dass der Schrecken des Krieges, der vor einem Jahr begonnen hat, bald ein Ende haben wird.

Der Machtkampf zwischen USA und Russland hat das Land in diesen katastrophalen Abgrund gestürzt.

Seit Anfang der 90er versucht die USA, in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion Einfluss zu gewinnen. Mit den Maidan-Protesten vor einem Jahr hat sie die Gelegenheit ergriffen, auch die Ukraine in ihr Einflussgebiet einzubinden. Insbesondere soll sie der NATO beitreten. Dafür unterstützt die USA die pro-westlichen Regierung.
Russland hingegen, dessen Geschichte, Wirtschaft und Bevölkerung tief mit der Ukraine verflochten ist, will sich eine Entschädigung dafür holen, dass es die Ukraine an den Westen verloren hat. Mit diesem Ziel unterstützen sie die prorussischen Separatisten.

Bei diesem Ziehen und Zerren um Einfluss, bei dem die USA genauso skrupellos und aggressiv vorgehen wie Russland, ist die Ukraine zerbrochen. Sie ist im Sumpf eines Bürgerkrieges versunken, aus dem bislang keiner der Beteiligten einen Ausweg findet, auch USA und Russland nicht.
Das Opfer ist die Bevölkerung der Ukraine. Sie bezahlt mit aller Wucht die Folgen des Bürgerkrieges: Über 5.000 Menschen sind bereits gestorben, über eine Million mussten fliehen. In den Frontgebieten lebt die Bevölkerung in Angst vor Angriffen. Krankenhäuser und Leitungen sind zerschossen. Viele leben ohne Medikamente, Heizung und Strom; teilweise kommt tagelang kein Brot an.

Doch auch weit weg von den Kampfgebieten, im Westen der Ukraine, beherrscht der Krieg den Alltag. Immer mehr Männer und Söhne werden eingezogen. Und die Regierung spart an allem: Im tiefsten Winter gibt es keine Heizungen in den Schulen mehr. Beständig werden neue Opfer „für das Vaterland“ verlangt: Sondersteuern, Sonderschichten… Kinder sollen Spenden für die Soldaten sammeln. Begleitet von täglicher nationalistischer Propaganda will man das ganze Volk in den Krieg hineinziehen.

In den Gebieten der pro-russischen Separatisten ist es genauso. Entbehrung bestimmt das Leben, vergiftet durch die tägliche Propaganda und Kriegshetze. Das Gift sickert in Freundschaften und Familien. Ständig drohen Konflikte zwischen Anhängern beider Lager auszubrechen. Und nicht zuletzt wird auch die Bevölkerung in Russland zum Opfer des Kräftemessens zwischen Putin und den USA.

Längst ist klar, dass keine der beiden Seiten die andere besiegen kann. Man müsste sich irgendwie einigen. Doch jeder Waffenstillstand bricht, kaum ist er geschlossen. Denn weder die ukrainische Armee noch die Separatisten wollen in der Position des Schwächeren sein, wenn man über zentrale Fragen verhandelt wie darüber, wo die Grenzen verlaufen, wie unabhängig die ostukrainischen Gebiete werden, ob die Ukraine der NATO beitritt…

Im Moment ist die ukrainische Armee die Schwächere. Trotz Waffenlieferungen aus USA und Kanada sind ihre Offensiven gescheitert. Sie verliert Gebiete an die von Russland ausgerüsteten Separatisten.
Deshalb ruft die ukrainische Regierung jetzt nach EU-„Friedens“-Truppen, von denen sie sich Unterstützung gegen die Separatisten erhofft. Und deshalb ruft sie vor allem nach militärischer Unterstützung durch die USA.

Werden die USA offen in die militärische Auseinandersetzung eingreifen, um das Blatt wieder zu ihren Gunsten zu wenden? Man weiß es nicht. Vielleicht ist es nur eine Drohung, um Druck auf Russland auszuüben und trotz der Schwäche der ukrainischen Armee ein Abkommen zu erzielen, mit dem beide Seiten leben können: ein Abkommen, in dem USA und Russland – über die Köpfe der ukrainischen Bevölkerung hinweg – ihren jeweiligen Einfluss in der Ukraine festlegen.

Doch falls es in der Ukraine tatsächlich zu einem offenen militärischen Kampf zwischen USA und Russland kommen sollte, dann kann dies für die Bevölkerung nur schrecklich werden: Es würde den Krieg noch brutaler machen, würde noch mehr Tot, Zerstörung und Hass in noch mehr Städte und Gegenden der Ukraine tragen.
Beide, USA wie Russland, würden eine solche Konfrontation gerne vermeiden. Und die Regierungen der EU haben erst Recht keine Lust auf einen russisch-amerikanischen Krieg vor ihrer Haustür. Doch oft genug haben wir auch erlebt, wie schnell sich eine Kriegsspirale in Ganz setzen kann; wie schnell dann auf einmal auch in Europa eine kriegerische Stimmung geschürt werden könnte, dass man „dem Schlächter Putin nun Einhalt gebieten“ müsse.

In jedem Fall betrifft uns das, was in der Ukraine passiert. Nicht nur, weil der Krieg so nah bei uns stattfindet. Sondern auch, weil fast jeder von uns Arbeitskollegen, Nachbarn oder Freunde hat, die aus der Ukraine oder Russland kommen oder Angehörige dort haben. Umso wichtiger ist es, dass wir uns nicht von unserer Regierung oder einer der anderen Großmächte vereinnahmen lassen, die alle nichts anderes tun, als ihren Machtkampf auf dem Rücken der Bevölkerung auszutragen.

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