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Nr. 165, Mai 2023 - Internationales

Türkei: Die Wahl alleine wird die Lage nicht verändern

Am 14. Mai finden in der Türkei die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Seit Wochen sind Erdogan und sein Gegenkandidat Kilicdaroglu in den Umfragen gleich stark. Zum ersten Mal seit vielen Jahren ist es nicht sicher, dass Erdogan wiedergewählt wird.

Lange hatte er noch von der Erinnerung an die ersten Jahre seiner Präsidentschaft zehren können, die eine Zeit des Wirtschaftsaufschwungs waren, in der Löhne und Renten stiegen und auch der Staat mehr Geld für den Bau von Krankenhäusern oder Straßen ausgeben konnte. Doch das ist lange vorbei.

Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal für die Arbeiterklasse und die Mittelschichten. Seit 2018 wird die Inflation immer schlimmer. Jedes Jahr werden die lebenswichtigen Waren um 50-200% teurer! Viele Familien müssen zum Beispiel schon rechnen, wie viele Zwiebeln sie sich leisten können. Rechnungen und Schulden treiben viele in die Verzweiflung. Und die einzige Antwort der Regierung ist immer mehr Einschüchterung und Unterdrückung.

Dazu noch das fürchterliche Erdbeben, das die mörderischen Folgen der Profitgier der Bauunternehmer und der Korruption der staatlichen Behörden und die Verachtung des Regimes für das menschliche Leben offenbarte! Erdogan kann nur darauf setzen, dass viele Betroffene nicht die Möglichkeit haben werden zu wählen.

Um trotzdem wiedergewählt zu werden, ist Erdogan jedes Mittel recht. Er versucht die Religionszugehörigkeiten gegeneinander auszuspielen (sein Gegenkandidat gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an). Er verstärkt die Einschüchterung und den Terror gegen seine politischen Gegner, insbesondere in den kurdischen Gebieten. Und abseits der offiziellen Reden lässt man die Drohung verbreiten, dass es Bürgerkrieg geben könnte, sollten Erdogan und die AKP verlieren.

All das soll das Gefühl verstärken, dass es eine „Schicksalswahl“ ist, von der abhängt, wie es in der Türkei weitergeht. Doch damit sich in der Türkei wirklich etwas ändert, wird die arbeitende Bevölkerung sich nicht auf die Wahlen verlassen können – auch nicht auf den Gegenkandidaten Kilicdaroglu, der Erdogan ablösen könnte.

Kilicdaroglu ist der Kandidat eines Bündnisses aus mehreren Parteien. Neben seiner Partei, der nationalistischen CHP, gehören ihm fünf kleinere, rechte Parteien an. Darunter eine islamistische Partei, zwei Abspaltungen von Erdogans Partei AKP (deren Vorsitzende jahrelang Mitstreiter und teilweise Minister von Erdogan waren) und eine Abspaltung der rechtsextremen MHP, hier als Graue Wölfe bekannt. Und nun soll die Bevölkerung darauf vertrauen, dass gerade sie die Rechtsentwicklung und Unterdrückung beenden?

Man braucht nur zu hören, wie Kilicdaroglu im Wahlkampf gegen die Schwächsten und Ärmsten, gegen die Flüchtlinge hetzt. Er erklärt, er werde alle syrischen Flüchtlinge aus dem Land vertreiben und behauptet, dadurch das Leben in der Türkei besser und sicherer zu machen.

Hingegen kommt von ihm kein Wort der Kritik an den Kapitalisten, die die Infla-tion nutzen, um die Löhne zu drücken und sich zu bereichern – und auch kein Wort der Kritik an den internationalen Banken, die die Bevölkerung mit ihren Krediten und hohen Zinsen aussaugen. In dem so dringenden Kampf gegen die rasant wachsende Armut hat die Bevölkerung nichts vom ihm zu erwarten.

Das ist die „Wahl“, vor der die Bevölkerung in der Türkei am 14. Mai steht – umso mehr, da alle linken Parteien, insbesondere die größere kurdische HDP, zugunsten von Kilicdaroglu auf einen eigenen Kandidaten verzichtet haben.

Damit sich für die arbeitende Bevölkerung irgendetwas zum Besseren wendet, wird sie (genau wie wir hier) kämpfen müssen. Auch nach der Wahl hat sie die Mittel dazu – sogar viel mächtigere als ein Stimmzettel: den Kampf in den Betrieben, den Streik.

Die Arbeiterklasse in der Türkei verfügt über eine lange Tradition von Arbeiterkämpfen. Mehr als einmal hat sie damit autoritären Kapitalisten und Regierungen einen Schrecken eingejagt.

Die Wochen des Wahlkampfes haben deutlich gemacht, wie viele die wachsende Armut und Unterdrückung nicht mehr ertragen wollen. Viele, die lange geschwiegen haben, haben geredet.

Und egal wie die Wahl letztlich ausgeht: Dies kann dazu beitragen, dass Arbeiter*innen wieder den Kopf erheben und den Kampf aufnehmen – und der Beginn wirklicher Veränderung sein.

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